Der Colos-Saal meldet das Ende einer Ära

Hallo Real Music Lovers, heute haben wir eine Geschichte für Euch - aus gegebenem Anlass. Sie geht so:

Wir wollten die Welt retten, Rolf und ich, damals im Jahr 1980, aber das Unterfangen sollte unbedingt auch Spaß machen. Nur hatte es uns Freigeister im September des Jahres ausgerechnet ins düstere, erzkonservative Fulda verschlagen. Kalter Krieg, der Nato Doppelbeschluss, aufkommende Friedensbewegung, die dritte RAF verübte Anschläge und das ganze Land war im Alarmzustand. Angespannte Stimmung wohin man kam. Rolf stammte aus Koblenz-Kesselheim, ich aus Erlenbach und ohne uns zu kennen, hatten wir uns an der Hochschule Fulda zum Studium der Sozialarbeit eingeschrieben. Als wir am ersten Tag ankamen, hatten die Studenten gerade mal wieder die Hochschule besetzt. Keine Ahnung, worum es damals ging, aber wir haben sofort mitgemischt.

Colos saal

Irgendwie gelang dann aber doch die geplante Erstsemestereinführung, bei der mir ein interessanter Typ mit langem Haar, gewagtem Outfit, Vollbart und ziemlich kräftigen Stimmbändern aufgefallen ist, insbesondere weil sich offensichtlich sämtliche Studentinnen um ihn herum kräftig amüsierten (ich will da nichts falsches sagen, denn bei den schallend lachenden jungen Mädels war auch Christa dabei (die heute seine Gattin ist). Mein Problem: ich verstand kein Wort von all den Scherzen, die er da offensichtlich von sich gab. Er sprach wohl einen Dialekt, mit dem ich mich bis dato noch nicht beschäftigt hatte. Jutta aus dem Saarland war an dem Tag übrigens auch dabei. Ich hatte damals keine Ahnung, wer die tolle junge Frau mit fuchsroten Haaren bis runter zur Hüfte war (aber seit 1989 ist sie meine Gattin).

Die Veranstaltung mündete direkt in die ziemlich wilde Erstsemestereinführungsparty, die mitsamt allen Besetzern, Neustudenten und ein paar coolen Profs in der Halle 8 stattfand, einer ziemlich abgerissenen, ehemaligen Fabrikhalle auf dem Hochschulgelände, in der es ausschließlich Apfelwein in Literflaschen gab – ohne Glas und Becher. Wir drei künftigen Mitglieder des Colos-Saal-Teams ließen es ziemlich krachen und je länger und lauter der Abend wurde, umso mehr verlor Fulda seinen Schrecken. Die sprachliche Verständigung lief nach jedem Apfelwein besser und ich realisierte irgendwann, dass Rolf wie Wolfgang Niedecken klang, dem Sänger einer damals aufkommenden Newcomerband namens BAP, den ich ja anfangs auch nicht verstand.

Schon in der Nacht fiel mir auf, dass Rolf bei der Party viele Songs mitgeträllert hat, nicht unbedingt schön, dafür aber saulaut, höchst engagiert und ziemlich beeindruckend. Wahrscheinlich hab ich an dem Abend schon beschlossen, ihn zu fragen, ob er nicht Sänger einer Band werden will, die ich in Fulda gründen wollte. Die Band gab es dann bald auch, nannte sich „Schnudelband“ und Rolf sang wegen seiner strikten, lebenslangen Weigerung, hochdeutsch zu sprechen, in fettem rheinischen Platt. Auf dem gefühlten Höhepunkt unserer Karriere verschickten wir Demokassetten an zig deutsche Clubs, immerhin hatten wir einen lokalen Hit mit dem Titel „Blumenkohl“ und für damalige Verhältnisse revolutionäre, ja geradezu metaphysische Lyrics.

Textauszug:
„Blumenkohl macht Hunde hohl,
in Toblerone keine Bohne.
Legalize Zement und Speiß,
wie groß ist der Radius vom Familienkreis.“

Nun gut. Die Euphorie der ignoranten Konzertveranstalter hielt sich in Grenzen. Ein einziger Brief kam zurück, von einem Club aus Frankfurt, dessen Namen ich hier aus Wettbewerbsgründen nicht nenne, zumal es den Laden immer noch gibt. Die Antwort lautete in unverfälschter, hessischer Direktheit: „Jungs, wollt Ihr uns verarschen?“. Ein herber Rückschlag für unsere Rock `n` Roll Karriere. Hat uns aber nicht weiter gejuckt damals. Bei der Fuldaer Studentenschaft waren wir die absoluten Helden.

Mein Therapeut wird mir irgendwann mal erklären müssen, ob die Absage unserer Konzertanfrage möglicherweise ursächlich dafür war, dass wir später gemeinsam die Seiten gewechselt haben. Runter von den Bühnen. Hinter die Bühnen.

Es gab intensive Bemühungen von Rolf und mir, das Fuldaer Nightlife mit unserer Anwesenheit zu bereichern. Das studentische, kontaktfreudige Wohngemeinschaftsdasein zusammen mit Rolf und ein paar anderen wunderbaren Freaks, welche auch die Kernmannschaft der Schnudelband darstellten, war ziemlich fordernd. Ausufernde Debatten über Politik und die Welt, der blitzgescheite Rolf immer bestens informiert und in großer Themenvielfalt sattelfest. Der Proberaum war im Keller, direkt unter einem Porno-Videoverleih im Erdgeschoss. Im Obergeschoss wohnte lange ein geheimnisvoll wirkender marxistischer Studentenaktivist im Jesus-Look, der sein Studium mit Profiten finanzierte, die er aus dem steuerfreien Handel von diversen Pflanzenbestandteilen aus Afghanistan, Marokko und dem Libanon erlöste, wie wir im Nachhinein erfuhren.
Irgendwann hatten Rolf und ich, damals immer äußerst klamm, ebenfalls eine pfiffige Geschäftsidee entwickelt, denn wir boten einem etwas halbseiden wirkenden Fulderaner Unternehmer, der mit großem Fuhrpark Eiltransporte abwickelte aber kaum Fahrer hatte, einen Deal an, den er nicht ausschlagen konnte: Wir versprachen ihm, dass immer einer von uns aus der Studenten-WG nachts nüchtern und zuhause bliebe, damit er jederzeit einen Fahrer telefonisch ordern könne. Das Geschäft blühte bald, anfangs würfelten wir noch, wer zuhause bleiben musste, am Ende fuhren wir alle, auch die Frauen der WG. Aber bedauerlicherweise litten darunter auch unsere studentischen Exzesse. Wir alle hatten nun nüchtern zu bleiben, nachts war manchmal die ganze Wohngemeinschaft in Eiltransporten unterwegs. Zum späten Frühstück saßen wir oft zusammen und erzählten uns von den nächtlichen Trips nach Wolfsburg, München oder Hamburg, wohin wir beispielsweise schnellstmöglich ein winziges Ersatzteil zu fahren hatten, weil ansonsten irgendwo im Land die Bänder still stehen würden. Wir waren somit die Retter der deutschen Industrie und wurden die reichste Studenten-WG in ganz Fulda. Die Zeit der Wurst-Endstücke - letztere hatten wir bis dato beim Metzger spottbillig und ein wenig verschämt eingekauft - war für immer vorbei.

An dieser Stelle sollte ich aber vielleicht klar stellen, dass wir auch mit großem Interesse und Engagement unser Studium hintertrieben haben, insbesondere die Wochenendseminare in irgendwelchen Gemeinschaftunterkünften in der Rhön. Nicht, dass da Zweifel aufkommen. Ernsthaft. Keine Lüge: Rolf, Jutta und ich haben überraschenderweise alle mit Traumnote 1,0 unser Examen abgeschlossen. Immerhin war unser langhaariger Lehrbeauftragter ein guter Kumpel von uns, der ansonsten Booking in einem Kneipenkollektiv mit Konzertsaal betrieb, was uns damals unglaublich beeindruckte und motivierte. Schönen Gruß an Mini, übrigens. Heute ist er einer der Masterminds des Herzberg Festivals. Die Welt ist klein.

Nach vier Jahren hatten wir es geschafft. Damals musste nach dem Diplom zur Erlangung der staatlichen Anerkennung noch ein Praxisjahr nachgeschoben werden und wir zerstreuten uns zunächst in alle Winde um tief in die Jugendarbeit und Obdachlosenbetreuung einzutauchen. Rolf blieb in Fulda und arbeitete in einer Drogenberatungsstelle. Er war 12 Monate lang tatsächlich ein engagierter Sozialarbeiter und hatte darüberhinaus den Ruf, dass er alles mögliche reparieren konnte. Der Mann aus Kesselheim war damals schon befähigt, sämtliche gängigen Rasenmähermodelle in ihre Einzelteile zu zerlegen und anschließend fast pannenfrei wieder zusammenzubauen, Motorräder soundso. Bei elektrischen Anschlüssen wurde er hemmungslos neugierig, schraubte leidenschaftlich daran herum und wenn irgendwo was nicht hielt, klebte er es halt kreativ mit Gaffer Tape fest.

Rolf, der Sänger, Diplom-Sozialarbeiter, Techniker, Mechaniker, Elektriker, Denker, Unterhaltungskünstler und Motorradfreak hatte aber auch eine ausgeprägte Leidenschaft für die Gastronomie. Er war ein immens erfahrener Gast, somit Experte, wechselte aber auch hier bald die Seiten. Er betrieb in Fulda penible Wirtschaftsforschung und erkannte die existierende Marktlücke für ein aussichtsreiches Startup. Direkt gegenüber dem Haupteingang der Hochschule wurde ein Gewerberaum frei und Rolf eröffnete mit einer Geschäftspartnerin ein Café darin. Natürlich wurde es ein gefeierter Erfolg. Die Studenten hatten endlich ein Zuhause und Rolf wurde Unternehmer.
Wir verloren uns jahrelang aus den Augen, telefonierten nur gelegentlich miteinander.

Der Rest ist schnell erzählt. 1984 hatte ich mit meinem Bruder Günther den Klimperkasten eröffnet. Acht Jahre später gab es die Gelegenheit, das Gebäude nebenan auch noch anzupachten und wir brauchten dringend Hilfe zum Bau und Betrieb des Colos-Saal. Wir suchten eine eierlegende Wollmilchsau, musikinteressiert, technisch versiert und ähnlich verrückt, wie die Brüder Berninger, als bei mir die Nachricht eintraf, dass Rolfs Geschäftspartnerin aus Fulda wegziehen und er das Café aufgeben wolle.

Die Gelegenheit nutzte ich schamlos aus und rief ihn an, auch hinsichlich der Vermutung, dass wir unsere sozialarbeiterischen Kenntnisse sehr gut zur intensiven Betreuung unseres reichlich bunten Publikums brauchen und anwenden werden können (später hatten wir dann mit Jutta zusammen drei Diplom-Sozialarbeiter im Stellenplan, worum uns heute noch viele soziale Einrichtungen beneiden).
Ein paar Wochen später zog Rolf tatsächlich mitsamt seiner Christa, unzähligen Motorrädern und seiner Blues-Platten-Sammlung von Fulda nach Aschaffenburg, war der erste technische Leiter im Colos-Saal und wurde dank seines bärigen Charmes zur unersetzlichen und bekanntesten Figur des Colos-Saal - zur lebenden Legende, die in ganz Aschaffenburg nur noch „Der Rolf“ genannt wird.

Warum bringen wir diese Geschicht in unserem Newsletter? Es gibt einen Anlass:
In Kürze endet eine Ära. Mit knapp 65 Jahren geht Der Rolf ab Oktober, nach über 31 Jahren Mitwirkung und 43 Jahren enger Freundschaft in den Unruhestand und wird der erste Rock-Rentner unseres Teams. Wer dieses rheinische Original noch einmal an seiner Wirkstätte erleben will, sollte also dringend noch eine Veranstaltung des Septemberprogramms bei uns besuchen.

Wir verneigen uns mit größter Hochachtung vor Rolf für seine jahrzehntelange, stressresistente und tragende Rolle im Colos-Saal als guter Freund und Team-Mitglied, für tausende von pannenfreien Lichtshows mit ihm hinter den Reglern, für sein kluges Mitdenken in allen Bereichen und für die vielen Korrekturen, die er der gelegentlich spinnerten Geschäftsleitung in all den Jahren abverlangte.

Diejenigen unser Besucher, die ihn ebenso schätzen wie wir, müssen aber nicht traurig sein. Rolf bleibt uns verbunden und wird gelegentlich aushelfen, wenn Not am Mann ist, sich aber künftig vorrangig auf seine Work Life Balance konzentrieren. Es sei ihm von Herzen gegönnt.
Ihr seht ihn also möglicherweise doch gelegentlich bei unseren Konzerten.

Quelle: Colos-Saal

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