MARILLION - An Hour Before It´s Dark
VÖ: 04.03.2022
(earMusic/Edel)
Genre: Neo Prog
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MARILLION
Sicher werden sie nicht mehr jünger und haben auch nicht mehr den Druck, aber die mehr als fünf Jahre Wartezeit auf neues Material waren für die Anhänger schon lange. Dabei haben die Neo Prog-Götter keineswegs auf der faulen Haut gelegen, vor allem auf der Bühne waren MARILLION nach ihrem letzten Longplayer „F.E.A.R“ aktiv. Daraus entsprang auch die Idee ihre Stücke mit dem Streichquartett IN PRAISE OF FOLLY neu zu arrangieren, die es bis ins Studio und auf eine weitere Tour schaffte.
Ursprünglich hätte das neue Werk „The Light At The End Of The Tunnel“ heißen sollen, unter dem Motto lief auch die Herbsttournee, welche auf dem europäischen Festland allerdings wieder abgesagt wurde. Die Pandemie ließ auch die Arbeiten am Album ins Stocken geraten, so dass die Briten im Herbst in den Genuss einer Best Of-Setlist kamen, die den Fans Wasser in die Augen treibt. Nun ist das Ding mit „An Hour Before It´s Dark“ betitelt, was weniger optimistisch klingt, kein Licht in Sicht, sondern das Erlöschen.
Überraschenderweise fällt das Ergebnis dann lebensbejahender aus, als man erwarten konnte, die Stimmung ist oft leicht und erhebend und hat etwas von dem Aufbruchsfeeling von „Season´s End“. Einzig „Sierra Leone“, einer der beiden über zehnminütigen Longtracks am Ende erinnert noch an die letzte Scheibe. Sei es der lange, manchmal langatmige Aufbau, die sehr erzählende Vortragsweise, die Theatralik oder auch die psychedelischen Harmonien. Auch das fest Gespenstische, die noch mehr als sonst verhallten Töne verweisen dahin, während der symphonische Part im Mittelteil für die orchestrale Bearbeitung wie geschaffen wäre.
Ansonsten gehören die alternativ rockigen Klänge von Alben wie „Somewhere Elsewhere“ endgültig der Vergangenheit an. Man darf aber nicht annehmen, dass man nicht konzentriert spielen würde, gerade der Bass von Pete Trewavas erzeugt einen latenten Druck. Statt auf Riffs setzt Rothery auf wunderschöne Melodien, jene Kernkompetenz lebte er zuletzt solo auf „The Ghosts Of Pripyat“ aus. Der Einfluss seines Soloschaffens ist ebenso bei Mark Kelly zu hören, der kürzlich mit MARATHON debütierte.
Da ging er deutlich zurück zu den Anfängen, hier schreitet man nicht ganz so weit, oder zumindest nicht so konsequent. Traumwandlerische Leadmelodien, welche über Synthesizerflächen tänzeln hatte man schon lange nicht mehr, aber so alt die Arbeitsweise auch ist, sie kann immer was. Jedoch halten sich diese Vereinigungen im Hintergrund, untermalen das Geschehen mehr und lassen mehr Raum. MARILLION agieren heute dezenter im instrumentalen Bereich, errichten keine massiven Klangkathedralen mehr.
Was Kelly von „F.E.A.R.“ herüber rettete war der hohe Anteil an Pianoklängen, die er auf dem neuen Werk ebenso prominent einsetzt. Gerne dürfen die pulsieren, je nachdem wie Taktgeber Trewavas vorgibt, greift der Mann länger und wärmer in die dicken Saiten entsteht eine ganz spannungsgeladene Atmosphäre. Hier entfaltet sich der Gesang von Steve Hogarth am besten, gerade er ist es, der die erhellendsten Momente bereithält. Mit seinem jubilierenden Organ macht er aus dem kürzesten Stück „Murder Machines“ sogar einen kleinen Hit. Da kommt das Spiel mit den Auflösungen zum Tragen, welches kaum eine Band so beherrscht wie MARILLION.
Auf „An Hour Before It´s Dark“ beweist sich diese wieder als wunderbare Klangmaler, alles ist noch mehr im Fluss, die Klangwolken der Synthesizer lassen vieles regelrecht schweben. Völlig im Wohlklang gehen die Fünf dann doch nicht auf, immer wieder fallen sorgsam aufgebaute Dynamik oder konzentrierte Passagen urplötzlich in sich zusammen. Den Effekt hat man sich vor allem auf „Brave“ kultiviert, auch dieses Mal sind die Themen ernst wie auf dem Meisterwerk. Dass die Kompositionen hier nicht in Lamentos untergehen ist ihr ganz großer Verdienst, diese Könner verstehen ihr Handwerk blind. Womöglich ihre beste Scheibe seit „Marbles“, auf welcher sie ebenfalls mit ihren Anfängen kokettierten.
8 / 10