64. NORDISCHE FILMTAGE - Lübeck
Festival vom 02.-06.11.22
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NORDISCHE FILMTAGE
Geschrieben von Monika Gnittke
Das war sie wieder. Die 5. Jahreszeit in Lübeck, wie Susanne Kasimir, Geschäftsführerin der Nordischen Filmtage, so treffend formulierte, ist vorbei.
Vom 2. bis 6. November 2022 gab es 173 Produktionen unterschiedlichster Genres aus dem gesamten europäischen Norden zu sehen. Erstmals seit 2019 auch wieder mit dem beliebten Infinity Dome, einem 360°-Kino. In Zeiten, in denen „Go in instead of look at” als neuer Weg in der Kunst gilt, ein sehr passendes Format und nach den unsicheren Pandemiezeiten nun auch endlich wieder möglich.
Schon am Eröffnungsabend wurde deutlich, das Publikum wollte endlich wieder ohne Einschränkungen das Kino feiern. Vor der Stadthalle war dichtes Gedränge, ein Taxi nach dem anderen hielt an und spuckte Eröffnungsgäste aus. Im Foyer war das Gedränge noch größer, sogar das eine oder andere hierzulande aus Film und Fernsehen bekannte Gesicht war unter den Gästen und auch die Lübecker Politprominenz war zahlreich vertreten. Echte Filmfestivalatmosphäre.
Überhaupt waren die Kinos wieder voll und auch die internationalen Gäste zahlreich erschienen.
Allen voran der isländische Regisseur Friðrik Þór Friðriksson, dem die diesjährige Hommage galt und der den damit verbundenen Ehrenpreis im Rahmen der Filmtage-Eröffnung entgegennahm.
Zur im letzten Jahr eingeführten Hommage gehört es, dass im Rahmen der Filmtage 5 Filme aus dem Gesamtwerk der Preisträgerin oder des Preisträgers gezeigt werden.
Unter den ausgewählten Werken des Isländers auch ein Kandidat mit Oscar-Nominierung für den besten ausländischen Film des Jahres 1992, „Börn náttúrunnar“, deutscher Titel „Children of Nature – Eine Reise“. Geiri, fast 80 Jahre alt, gibt seinen Hof auf und zieht zu seiner Tochter nach Reykjavik. Doch deren Familie kann oder will sich auf den alten Mann nicht einstellen und so landet Geiri schließlich im Altersheim. Dort begegnet er seiner Jugendfreundin Stella, die sich im Heim genauso unwohl fühlt. Beide beschließen, das Heim zu verlassen und sich in ihre Heimat in den Westfjorden aufzumachen.
Selbstbestimmung im Alter, neu anfangen, sich nicht den Umständen oder Konventionen ergeben sind die Themen dieses sehr schönen anrührenden Films. Meine persönliche Lieblingsszene leitet das Ende des Films ein: Der Schweizer Schauspieler Bruno Ganz erscheint, wortlos und in einem langen schwarzen Mantel sofort als Engel erkennbar, der Geiri an die Hand nimmt. Eine wunderbare Szene, die so gut zu Island passt und die Friðriksson, wie er im anschließenden Q&A bestätigt, als Hommage an Wim Wenders verstanden wissen will.
Im Rahmen der Retrospektive „Cross und Queer“, die von Kleidervielfalt und Geschlechteridentitäten erzählt, gab es zwei wirkliche Klassiker der Filmgeschichte zu sehen.
Zum einen „Persona“ von Ingmar Bergman aus dem Jahr 1966 mit Bibi Andersson und Liv Ullman und wie so oft bei Bergmann der nördlich von Gotland gelegenen Insel Fåro, Bergmans Wahlheimat, quasi als drittem Hauptdarsteller.
Ein zweiter Klassiker, diesmal aus Dänemark, stammt aus den Anfangszeiten des Films: „Hamlet“. Anders als in Shakespeares Theaterstück, ist Hamlet eine Prinzessin und wird von ihren Eltern als Thronfolger ausgegeben. Asta Nielsen spielte nicht nur die Titelrolle, sondern fungierte auch als Produzentin.
Besonders an dieser Aufführung war die Zusammenarbeit mit Studierenden der Lübecker Musikhochschule. Denn was ist ein Stummfilm ohne Orchester? Die jungen Musikerinnen und Musiker haben dem Film auf eine Art und Weise Leben eingehaucht, die sich kaum beschreiben lässt. Wer also mal die Gelegenheit hat, einen Stummfilm mit Orchesterbegleitung zu erleben, sollte sich das nicht entgehen lassen.
Aber auch viele der neuen Filme haben mich beeindruckt.
Da ist zum einen „January“ des lettischen Regisseurs Viesturs Kairišs. Riga im Januar 1991. Jazis möchte Filmemacher werden, schwärmt von Ingmar Bergman und Jim Jarmusch. Mit seiner Kamera gerät er in die „Barrikadentage“, die letztlich zur Unabhängigkeit Lettlands führten. Viesturs Kairišs widmet diesen Film allen Kameraleuten, die in Kriegs- und Krisengebieten jeden Tag ihr Leben riskieren.
Nicht unerwähnt bleiben soll und sehr kinotauglich auch für ein breiteres Publikum ist der Gewinner des Publikumspreises 2022 „Alle hater Johan“ („Everybody Hates Johan“), ein durchaus „explosiver“ Film.
Johan wird 1943 auf einer kleinen Insel vor der norwegischen Küste geboren. Um zu verhindern, dass die deutschen Besatzer die Insel einnehmen, sprengen seine Eltern die Brücken zum Festland. Nach dem Krieg räumen sie auf die gleiche Weise Minen in den Gewässern um die Insel und kommen dabei ums Leben. Die Begeisterung fürs Sprengen wird Johan dennoch sein ganzes Leben lang nicht loslassen.
Der Film ist allerbeste Unterhaltung, sehr humorig und mit Pål Sverre Hagen („The Middleman“, 2021) als Johan wunderbar besetzt.
Der Preis fürs beste Spielfilmdebüt ging an die junge dänische Regisseurin Katrine Brocks für „Den store stilhed“ („The Great Silence“).
Silje lebt als Novizin Schwester Alma in einem dänischen Kloster und steht kurz vor ihrem Gelübde als plötzlich ihr Zwillingsbruder, ein trockener Alkoholiker, im Kloster auftaucht. Die Geschwister verbindet ein dunkles Familiengeheimnis, das beide nicht länger verdrängen können. Beeindruckend war vor allem Kristine Kujath Thorp („Ninjababy“, 2021) als Schwester Alma.
Sehr gefallen hat mir auch Berdreymi (Beautiful Beings) von Guðmundur Arnar Guðmundsson über eine Clique von Jungs in Reykjavik, die sich zwischen alkoholkranken Müttern und prügelnden Väter ihren Platz in der Welt auch eher mit Fäusten als Argumenten zu erkämpfen versuchen und trotzdem lernen, was Freundschaft ist.
Mein zweites persönliches Highlight war ein Dokumentarfilm aus der Jugendsparte.
Kasper Kiertzner, der Regisseur von „Tsumu – Where Do You Go With Your Dreams“ ist noch Lehramtstudent in Kopenhagen als nach Ostgrönland reist, um im Rahmen seines Studiums in dem kleinen Ort Tasiilaq zwei Monate an der örtlichen Schule zu unterrichten. Er trifft dort auf eine Gruppe Jugendlicher, mit denen er einen Film machen möchte. Wie lebt es sich in dem kleinen Ort am scheinbaren Ende der Welt? Dort, wo selbst nach Meinung der Menschen in Westgrönland nur Loser leben? Kiertzner und seinen jungen Protagonisten ist ein einfühlsamer Film gelungen vom Leben zwischen Alkoholismus und Suizid, westlicher Popkultur und Zukunftsträumen. Wieder ein Film, der verdeutlicht, dass uns, egal wo auf dieser Erde wir leben, mehr verbindet als trennt.
Und dann war da noch der zauberhafte Kinderfilm „Lill-Zlatan och Morbror Raring“ („Mini-Zlatan and Uncle Darling“). Die kleine Ella ist großer Fußballfan und ambitionierte Spielerin. Ihr Vorbild ist Zlatan Ibrahimovic und natürlich geht auch bei ihr nichts ohne die Rückennummer 10. Tommy, Ellas Lieblingsonkel, betreibt erfolgreich ein Friseurstudio und hat mit Fußball nichts am Hut. Aber sonst machen die beiden fast alles gemeinsam. Als plötzlich Tommys neuer Freund Steve, ein Niederländer, auftaucht und Ella glaubt, Tommy habe nun keine Zeit mehr für sie, gibt es nur eins: Steve muss weg. Dabei helfen sollen ihr Schulkamerad Otto und seine beide Rattenmädchen Eva und Kerstin. Ob das gelingt? Oder muss Ella Steve am Ende sogar zurückholen und kann ihr Fußballtalent dabei helfen?
Ach ja, woran merkt man, dass man alt wird? Wenn im schwedischen Kinderfilm die wunderbare Inger Nilsson plötzlich nicht mehr die Heldin, sondern die Großmutter der Heldin spielt. Und auch dieses Wiedersehen macht den Film vor allem für Pippi-Fans besonders.
Es bleibt zu hoffen, dass dieser Film den Weg in die deutschen Kinos findet. Dann sucht man sich am besten eine kleine Nichte oder einen kleinen Neffen für einen Tag und sieht sich den Film an.
Es waren gelungene 64. Nordische Filmtage. Mein persönlicher Fokus lag in diesem Jahr auf den Spielfilmen. Man kann einfach nicht so viel sehen wie man gern möchte und muss sich dann einfach entscheiden. Aber manches wird auch hier ins Kino kommen so wie „Grump“, der neue Film von Mika Kaurismäki, der am 24.11.2022 bundesweit in den Kinos anläuft. Und Kaurismäki, egal ob Mika oder Aki, geht schließlich immer.